Schuch
in Venedig

Venedig – Stadt des Wassers! Die Jahre zwischen 1876 und 1882 verbringt Carl Schuch in der Lagune – und begegnet dem Ort mit gemischten Gefühlen.

„Venedig ist ein Sumpf für mich.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82

In Venedig wohnt Schuch ganz in der Nähe der Abbazia San Gregorio, dem ältesten Kloster der Stadt. In dem Gemälde von 1878 hält er die Fassade des Innenhofes fest. Mit ausgefeilter Pinseltechnik setzt er die Wirkung des einfallenden Sonnenlichts ins Bild.

Carl Schuch, Abbazia S. Gregorio in Venedig, 1878
Öl auf Leinwand, 84 × 69 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Foto © Niedersächsisches Landesmuseum Hannover – ARTOTHEK
Lagunenstadt
Carlo Naya, Venedig: Blick auf Markusbibliothek, Campanile und Dogenpalast, ca. 1875
Albuminpapier auf Karton, 41,3 x 54,1 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main, Inv.-Nr. St.F.145, Foto © Städel Museum, Frankfurt am Main
Die Eisenbahnbrücke von Venedig, historisches Postkartenmotiv, um 1900
Tomaso di Filippi, Perlenfädlerinnen auf San Pietro di Castello in Venedig
Fondamenta Quintavalle, IRE Venedig
Carlo Naya, Venedig: Canale Grande, 1881/82

Venedig ist heute ein Magnet des Massentourismus. Zu Schuchs Zeiten war die Lagune ruhiger, aber längst ein traditioneller Anziehungspunkt für Wohlhabende, Künstler und Intellektuelle aus Europa und der Welt. Zahlreiche Maler verewigten über Jahrhunderte die Ansichten der Häuser, Kanäle und Gondeln der einzigartigen Stadt.

„Ich sehe die Zeit kommen, wo mir Venedig viel bieten wird. Wenn ich erst noch ein paar Jahre (…) ordentlich gelandschaftert und Luft malen kann und Wasser, dann werde ich die Architektur unterordnen und nur mehr in Licht und Farbe, Schiffe, Wasser usw. malen.“

Carl Schuch an Karl Hagemeister, vor 1880

Carl Schuch scheute sich, das Farbenspiel Venedigs auf die Leinwand zu bringen. Er führt in der Lagunenstadt das Leben eines Junggesellen und widmet sich – mit großem Perfektionismus – seinen Notizen und Farbstudien in seinem Atelier.

Carl Schuch, Notizheft Venedig I, fol. 51r mit Pigmentnotizen zu Wilhelm Trübners Wildenten und Fasanen, 1880
Belvedere, Wien, Foto © Belvedere, Wien
Jungesellenleben

„Ich habe auch jetzt ein Klavier, bin viel zu Haus, frequentire vorerst alle Puffs und fühle mich im Ganzen zufriedener.“ Mit einer heute erstaunlichen Selbstverständlichkeit schildert Schuch seine Liebeseskapaden in seinen Notizbüchern und Briefen. Angelina, Venturina, Elena und Marie – manche Namen der Affären und Prostituierten sind überliefert; die Lebensgeschichten der Frauen kennen wir nicht. Er habe „noch keine Syphilis“ – so schreibt Schuch aus Venedig an einen Freund – zieht sich dann aber doch eine Sexualkrankheit zu, die ihn bis zu seinem Tod qualvoll verfolgen sollte. Seinen Lebensstil des unverheirateten Mannes teilt Schuch mit zahlreichen europäischen Künstlern, Komponisten und Literaten des 19. Jahrhunderts. In einer Zeit, in der Ehelosigkeit moralisch verpönt war, wurde die Rolle des Dandys, ewigen Junggesellen oder Hagestolzes am ehesten bei kreativen Männern toleriert. Erst im Alter von 48 Jahren heiratete Schuch, bereits schwerkrank, in Wien.

Winter im Atelier

Die Winter verbringt Schuch in seinem venezianischen Atelier. Er liest Literatur aus Frankreich, studiert akribisch Werke befreundeter Künstler und malt eigene Bilder – vor allem Stillleben.

Ein Klavier, ein Bücherregal, eine Treppe aufs Dach: Mehrfach skizziert Schuch sein venezianisches Atelier. Die Wände des Raumes schmücken Gemälde – von Wilhelm Trübner und dem ebenfalls befreundeten Maler Hans Thoma (1839-1924), aber auch eigene Werke, wie beispielsweise Hummer mit Zinnkrug und Weinglas von 1877.
Carl Schuch, Atelier in Venedig, 1881
Öl auf Leinwand, 89,2 × 66,5 cm, Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen, Foto © Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen
Kein Geld der Welt

Das Gemälde Hummer mit Zinnkrug und Weinglas hält Schuch zwischenzeitlich für eines seiner besten Werke und erwägt, es auszustellen. Doch es kommt nicht dazu: Schuch ist kaum an der Wirkung und Vermarktung seiner Kunst interessiert: Nur ein einziges Bild soll er zu Lebzeiten verkauft haben. Der Hummer wird erst 1904, auf Initiative von Wilhelm Trübner, im Berliner Kunstsalon Eduard Schulte der Öffentlichkeit präsentiert: Hugo von Tschudi, Direktor der Berliner Nationalgalerie, erwirbt es sofort für sein Museum.

Carl Schuch, Hummer mit Zinnkrug und Weinglas, 1877
Öl auf Leinwand, 61 × 75 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Inv.-Nr. A I 853, Foto © bpk | Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders

Genau schauen, erkunden und austesten: Anhand der Stilllebenmalerei untersucht Schuch die Wirkung von Farben unter verschiedenen Lichtbedingungen. Wie lässt sich der Zusammenklang des Gesehenen in einem Gemälde vermitteln? Schuch unterzieht seine malerischen Strategien immer neuen Prüfungen.

Wilhelm Trübner, Wildenten, 1873
Öl auf Leinwand, Museum Wiesbaden, Schenkung Jan und Friederike Baechle 2020, Foto © Museum Wiesbaden / Bernd Fickert
Eine Wildenten-Darstellung von Wilhelm Trübner hatte Schuch gekauft und nach Venedig mitgenommen. Dort analysiert er die Farbwerte jeder Bildstelle und notiert Sätze wie „Im Flügel Blau, Ultramarin zu Pr[eussisch] Blau.“
Carl Schuch, Wildenten und Emailletopf, um 1882–1884
Öl auf Leinwand, 62,3 × 79,8 cm, Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat, Inv.-Nr. 2022/280, Foto © Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat / Bernhard Strauss
Schuch beginnt, eigene Entenstillleben zu entwerfen. Noch einige Jahre später – als er Venedig bereits verlassen hat – malt er viele Versionen des Themas: Schuch lotet die feinsten Verschiebungen der Lichtverhältnisse und Farbabstufungen in seinen Bildern aus.
Carl Schuch, Wildente, Tontopf und Blechdose, um 1886–1894
Öl auf Leinwand, 80 × 64 cm, Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat, Inv.-Nr. 2022/289, Foto © Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat / Bernhard Strauss
Bei genauer Betrachtung der Stillleben fällt auf: Die Gemälde sind Pinselstrich für Pinselstrich „durchgebildet“. Es gibt keine klare Konturen oder harte Farb- und Lichtkontraste, aber eine fein abgestufte, verwobene Gesamterscheinung.
Carl Schuch, Wildente und Korb, um 1882–1884
Öl auf Leinwand, 53,5 × 79 cm, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 5525, Foto © Belvedere, Wien / Johannes Stoll
Auch Dunkel und Hell sind bei Schuch keine klaren Gegensätze. Dunkle Passagen malt er nie einfach mit einem schwarzen Pigment, sondern stimmt sie bewusst auf alle anderen Farben im Bild ab. In Schuchs Stillleben gibt es kein helles, ungebrochenes Licht und kein lichtfreies Dunkel.
Jean Siméon Chardin, Stillleben mit Rebhuhn und Birne, 1748
Öl auf Leinwand, 39,2 × 45,5 cm,Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V., Inv.-Nr. 2129, Foto © Städel Museum, Frankfurt am Main
Stillleben mit toten Tieren haben eine lange Tradition in der Kunstgeschichte: Der französische Maler Jean-Baptiste Chardin (1699–1779) hat dieses anrührende Bild 1748 gemalt. Schuch und viele seiner gleichgesinnten Zeitgenossen bewunderten Chardins Malerei – seine Farbgestaltungen und die lockere Malweise trafen den Zeitgeist des späten 19. Jahrhunderts.

Stillleben sind nicht gleich Stillleben – während seiner Winter in Venedig experimentiert Schuch mit größeren Formaten, die er später verwerfen und ablehnen sollte. Zu „groß“, zu „preußisch“, zu wenig auf den „Gesamtton der Erscheinung“ bedacht – so Schuch über seine aufwendigen Kompositionen aus der venezianischen Zeit.

Angelehnt an flämische Kunst des 17. Jahrhunderts: Die Kleine Trödelbude von 1878 erinnert an so genannte Vanitas-Stillleben, die auf die Vergänglichkeit aller weltlichen Dinge verweisen. Dem modernen Maler Schuch geht es weniger um die sinnbildliche Funktion der alten Kunst. In seinem Gemälde testet er die Logik der Malerei: Wie lassen sich Pinselstriche setzen, um unterschiedliche Stofflichkeiten nachzubilden? Welche Wirkung haben feine Farbabstufungen?

Peter Willebeeck, Vanitas-Stillleben, ca. 1650
Öl auf Leinwand, 88,8 x 73,7 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto © Städel Museum, Frankfurt am Main
Carl Schuch, Kleine Trödelbude, 1878
Öl auf Leinwand, 84,5 × 69,5 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Inv.-Nr. KM 169/1912, Foto © Niedersächsisches Landesmuseum Hannover – ARTOTHEK
Französische Lektüre

Schuch ist ein eifriger Leser: Nicht nur Romane, auch die neueste französische Kunst- und Kulturtheorie rezipiert er. Die großen Fragen, die Intellektuelle und Kritiker in Frankreich neu stellen, treiben ihn um: Welches Verhältnis hat die Kunst zur Wirklichkeit? Schuch liest Le Realisme (fr. „der Realismus“) von Jules Champfleury (1821–1889), einem Freund Gustave Courbets. Auch Émile Zolas (1840–1902) einschlägige Schriften zur Kunst sind ihm vertraut: Einmal fasst Schuch die komplexen Konzepte seiner Zeit in seinem Notizheft für sich zusammen: „Der Naturalismus zieht jeden Stoff in seinen Bereich natürlichen Vorstellens. Der Realismus beschränkt sich auf das Stoffgebiet des Selbsterlebten, Gesehenen.“

Titelseite von Émile Zolas Essay "Edouard Manet", Paris 1867

Sommer in der Natur

Sommerlandschaften! Von Venedig zieht es Schuch in den Sommermonaten ins österreichische Pustertal, durch Oberitalien und nach Brandenburg. Seine akribischen Studien der Wintermonate dienen letztlich dem Malen von Landschaftsbildern, Schuchs eigentlicher Leidenschaft!

„Ich muß inmitten der Natur sein, die ich male, um sie in jedem Augenblick studieren zu können, herumlaufen, suchen, gucken, drin leben, um sie ganz auf mich wirken zu lassen, in ihr ganz aufzugehen. Die wahre Landschaftsmalerei (…) verlangt diese Intimität.“

Carl Schuch an Karl Hagemeister, 30. März 1878

Sandiger Boden, Mischwälder und an Seen gelegene Dörfer – Schuch verbringt die Sommer 1879, 1880 und 1881 in Brandenburg, in Ferch am Schwielowsee und Kähnsdorf am Seddiner See, nicht unweit der rasant wachsenden Metropole Berlin.

Carl Schuch, Backofen in Ferch, 1878
Öl auf Leinwand, 70 × 84 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Inv.-Nr. A II 33, Foto © bpk | Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders

Genau beobachtet, aber nicht detailverliebt: Schuchs Bilder fangen die charakteristische Bebauung, Farbigkeit und Stimmung der Brandenburger Landschaft ein. Manche der Gemälde verraten die Orientierung an französischen Vorbildern.

Schuchs Siel bei Kähnsdorf ähnelt den Schleusenbildern des französischen Malers Charles-François Daubigny (1817–1878). Schuch hatte dessen erstes großes Schleusenbild wahrscheinlich bei einem Paris-Besuch bestaunt.

Charles-François Daubigny, Schleuse im Tal von Optevoz, um 1855
Öl auf Leinwand, 63,6 × 84,5 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Neue Pinakothek, Inv.-Nr. 8584, Foto © bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen / Nicole Wilhelms
Carl Schuch, Siel bei Kähnsdorf, 1880
Öl auf Leinwand, 71 × 94 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Neue Pinakothek, Inv.-Nr. 1075, Foto © bpk / Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Spuren des menschlichen Lebens: Siele und Schleusen zeugen von jahrtausendealten Wassertechniken – auch sie machen den Charakter einer Landschaft aus. Schuch ist darauf bedacht, die natürliche Umgebung, die er für seine Bilder wählt, intensiv zu erfahren und malt häufig en plein air, mitten in der Natur.

Unter freiem Himmel
Karl Hagemeister im Freien vor seinem Gemälde „Verschneiter Birkenwald“, um 1891/92
Foto © Karl Hagemeister Archiv und Werkverzeichnis Berlin, Foto: Hermann Hirzel
Gustave Courbet an der Staffelei, um 1863/64
John Singer Sargent, Claude Monet malt am Rande eines Waldes, ca. 1885
Öl auf Leinwand, 54,0 x 64,8 cm, Tate, London
Philipp Kester, Dachauer Malweiber, 1906
Gelatineentwicklungspapier, 13 cm x 17,5 cm, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, Archiv Kester, https://sammlungonline.muenchner-stadtmuseum.de/liste/contrib-detail/dachauer-malweiber-10115674
Walnusskasten mit Ölfarbentuben der Marke Lacroix, um 1900

Ob Stillleben oder Landschaftsbilder: Schuch kopiert das Gesehene nicht lediglich, sondern bildet es sorgsam mit künstlerischen Mitteln nach. Jeder Farbtupfer, jeder Pinselstrich ist bewusst gesetzt, bleibt sichtbar stehen und ist doch Teil eines stimmungsvollen und überzeugenden Gesamtgefüges.

Carl Schuch, Schilffeld bei Ferch, 1881
Öl auf Leinwand, 60 × 89 cm, Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat, Inv.-Nr. 2022/286, Foto © Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat / Bernhard Strauss

In den letzten Monaten in Venedig studiert Schuch ausgiebig die Veränderung von Farben im Sonnenlicht und malt im Sommer das Licht- und Schattenspiel im Freien.

Carl Schuch, Sägegrube, 1880
Öl auf Leinwand, 44,2 × 55,9 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. HK-1549, Foto © Hamburger Kunsthalle / Horst Ziegenfusz

In seinem Gemälde Sägegrube aus dem Sommer 1880 übersetzt Schuch die Lichtflecken in leuchtende Ocker- und Orangetöne: Er bringt die Farbe großzügig auf die Leinwand auf, ohne sie mit dem Pinsel zu vermalen. Schuch „materialisiert“ die Wirkung des Sonnenlichts.

Carl Schuch, Sägegrube, 1880
Öl auf Leinwand, 44,2 × 55,9 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. HK-1549, Foto © Hamburger Kunsthalle / Horst Ziegenfusz

„Ihnen [den Franzosen] ist zuerst aufgegangen, wie das Leben der Landschaft in Licht und Luft besteht, in den atmosphärischen Verhältnissen, die in die Kunst übersetzt den jeweiligen Ton, die Stimmung des Bildes gibt.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82

Lichteffekte, Farbwirkungen und die Stimmung einer Landschaft nachbilden – die französische Kunst bleibt Schuchs Inspiration: Es drängt ihn schließlich von Venedig nach Paris, dem damaligen Dreh- und Angelpunkt der Kunstwelt.