Carl Schuch

&  Frankreich

24.9.2025 —1.2.2026

Seine dichten, stimmungsvollen Gemälde werden von Kunstliebhabern hochgeschätzt! Carl Schuch (1846–1903) ist der wohl bekannteste Unbekannte unter den großen europäischen Malern des späten 19. Jahrhunderts. Von heute weltberühmten Künstlern aus Frankreich wie Claude Monet, Édouard Manet und Gustave Courbet ließ er sich inspirieren – und ging doch eigene Wege. Auf der Suche nach Erkenntnis und Sinn widmete der gebürtige Wiener sein Leben der Kunst.

Ein einzigartiges Seherlebnis: Carl Schuchs Kunstwerke entfalten eine besonders eindrückliche Wirkung: Mal harmonisch, mal spannungsvoll sind ihre feinsinnigen Farbgestaltungen mit großer Sorgfalt geplant und ausgeführt.

Carl Schuch, Im Tal des Doubs (Felsige Waldlandschaft), um 1886–1893
Öl auf Leinwand, 62 × 83 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Neue Pinakothek, Inv.-Nr. 8564, Foto © bpk / Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Farb- und Lichtabstufungen, Hintergrund und Vordergrund, einzelne Motive und das Bildganze erscheinen auf eigentümliche Weise mit- und ineinander verwoben: Schuchs Gemälde im Original zu erleben, sich auf sie einzulassen und sie ausgiebig zu erkunden, lohnt sich!

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Schuch
auf der
Suche

Schon als Jugendlicher in Wien trifft Carl Schuch die Entscheidung, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen: Auf der Suche nach einer ganz eigenen Farb- und Formensprache begeistert er sich für die moderne Kunst und Kultur aus Frankreich.

„Frankreich war voraus gegangen und hatte in Literatur und Malerei Meisterwerke hingestellt, die seitdem viel nachgeahmt, noch in keinem andern Land erreicht worden sind.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82

Ein wacher Blick in die Welt, in galantem Schwarz und mit hohem Hut, die Zigarette lässig im Mundwinkel: Das Porträt zeigt Carl Schuch im Alter von 29 Jahren. Doch das Gemälde von Wilhelm Leibl (1844–1900), einem Weggefährten Schuchs, lässt auch eine tiefe Melancholie erahnen.

Wilhelm Leibl, Der Maler Carl Schuch, 1876
Öl auf Leinwand, 58,5 × 50,5 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Neue Pinakothek, Inv.-Nr. 8620, Foto © bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Kindheit in Wien
Wilhelm Burger, Wien 1, Kärntnerring, 1876
Foto © Österreichische Nationalbibliothek
Der Universitätsplatz (heute Dr. Ignaz Seipel-Platz) in der Wiener Innenstadt in der Nacht vom 13. auf den 14. März 1848
Foto © Archiv der Universität Wien, Stich von R. Swoboda
C. Schneeberger, Susanna Schuch, Tante des Künstlers, 1846
Belvedere, Wien, Inv.-Nr.: AKB_VN-36-D-3-4, Foto © Archiv des Belvedere, Wien
Franz Antoine, Die Kinder der Familien Schuch und Antoine, um 1852
Belvedere, Wien, Inv.-Nr.: AKB_VN-36-D-2-2-2, Foto © Archiv des Belvedere, Wien
Gustav Stegmann, Karl Schuch und Julius Rettich, 1867
Wien Museum, Inv.-Nr. 102496

Die Erbschaft seiner Eltern ermöglicht es: Schuch leistet sich eine künstlerische Ausbildung in Wien. Nach einem abgebrochenen Studium an der Staatlichen Kunstakademie nimmt er Privatunterricht bei dem Landschaftsmaler Ludwig Halauska (1827–1882).

Ludwig Halauska, Partie aus den Julischen Alpen, 1856
Öl auf Karton, auf Leinwand kaschiert, 33,1 x 48,3 cm, Wien Museum, Inv-Nr. 100705, Foto © Wien Museum / Birgit and Peter Kainz

Der Tod seiner Schwester Pauline bewegt Carl Schuch 1869 dazu, seine Heimatstadt zu verlassen. Der hochgebildete und polyglotte junge Mann geht auf Reisen – durch Italien, über Rom und Neapel, später auch nach Paris und Brüssel, Amsterdam, Dresden und München.

Carl Schuch, Die Ponte Salario bei Rom, flussab, 1870
Öl auf Leinwand, auf Holz aufgezogen, 31,9 × 43,2 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Inv.-Nr. KM 187/1912, Foto: Niedersächsisches Landesmuseum Hannover – ARTOTHEK
Gespaltenes Europa

Europa ist um 1870 politisch tief gespalten. Während eines Aufenthalts in Italien erlebt Schuch die Einnahme Roms: Sie besiegelt das Ende der italienischen Unabhängigkeitskriege und führt zur Loslösung von der österreichischen Kaiserkrone und zur nationalen Einigung. 1870/71 tobt außerdem der Deutsch-Französische Krieg: Am Ende der militärischen Auseinandersetzung stehen nicht nur hunderttausende Todesopfer und schwere Zerstörungen, sondern auch die Gründung des Deutschen Reiches sowie das Ende des Second Empire, des Zweiten Französischen Kaiserreichs. Schuch lebt in Umbruchszeiten – in seinen Notizheften und Briefen finden sich immer wieder Hinweise auf das rasante politische Geschehen seiner Zeit, doch seine Gemälde sind davon frei.

Ludovico Tuminello, Die Erstürmung der Porta Pia, 20. September 1870
Charles-David Winter, Straßburg vom Steintor aus, 18. September 1870

Auf Reisen quer durch Europa – Schuch blickt dabei immer nach Frankreich: Bei Museums- und Galeriebesuchen gilt seine besondere Aufmerksamkeit den Kunstwerken französischer Zeitgenossen. Die neue Malerei aus Frankreich begeistert ihn: Dort hatten Künstler ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit althergebrachten Normen gebrochen. In einer Zeit großer Umwälzungen forderten sie eine unvoreingenommene, aufrichtige Kunst!

„Den Franzosen ist es gelungen, die traditionelle Art zu sehen verlassen zu können und ein natürlicheres und tieferes Verhältniß zur Natur zu finden.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82
Eine neue Kunst

Schuchs Begeisterung für die französische Kunst hatte gute Gründe: In Paris debattieren Künstler, Kunstkritiker und Intellektuelle schon Mitte des 19. Jahrhunderts über eine neue Bedeutung und gesellschaftliche Rolle der Malerei: Unter den Schlagworten „Naturalismus“ und „Realismus“ wurde das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit neu ausgelotet. Bilder sollten nicht mehr nach den festgefahrenen Regeln der staatlichen Kunstakademien entstehen. Stattdessen forderte man die individuelle und unvoreingenommene Wiedergabe des Gesehenen und Erlebten, mit dem Ziel einer „art vivant“, einer „lebendigen Kunst“. Ohne unnötige Ausschmückungen und schwelgerische Idealisierungen sollten die neuen Ausdrucksweisen der modernen Welt gerecht werden.

Carl Schuch, Felsklippe in der Campagna, 1870
Öl auf Leinwand, 54,5 × 73,5 cm, Museum Wiesbaden, Inv.-Nr. M 596, Foto © Museum Wiesbaden / Bernd Fickert
Eine karge, felsige Landschaftsszene, ein von Wolkenbändern durchzogener, tiefhängender Himmel – Schuch hat das damals ungewöhnliche Gemälde 1870 in der Umgebung von Rom entworfen: Scheinbar schnell und einfach gemalt, vermittelt das Bild eine dichte Atmosphäre.
Théodore Rousseau, Barbizon-Landschaft – Bei den Schluchten von Apremont, um 1840–1845
Öl auf Leinwand, 49 × 91 cm, Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen, Foto © Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen
Vorbild für Schuch waren neuartige Landschaftsbilder aus Frankreich: Die Maler der Schule von Barbizon hatten bereits um die Jahrhundertmitte das Ziel, den Naturausschnitt möglichst unverfälscht zu schildern.
Antoine Vollon, Steilküste, um 1870
Öl auf Leinwand, 90 × 115 cm, Musée d’Orsay, Paris, don de la Collection de Bueil & Ract-Madoux par l’intermédiaire de la Société des Amis du Musée d’Orsay, 2021, Inv.-Nr. RF MO P 2021 3, Foto © bpk | GrandPalaisRmn / Patrice Schmidt
Schuch schätzte seinen französischen Zeitgenossen Antoine Vollon (1833–1900) sehr: Auch ihm waren die unkonventionellen Barbizon-Künstler ein Vorbild. Seine Darstellung lässt die schroffe Wildheit der Atlantikküste aufleben.
Carl Schuch, Blick zum Dachstein, um 1867
Öl auf Leinwand, 32 × 40,5 cm, Privatsammlung, Foto © Privatsammlung / Dirk Urban
Lieblicher, weiter und regelhafter erscheint Schuchs Blick zum Dachstein: Das Bild entstand noch bevor er Wien verließ und sich für die neue französische Landschaftskunst begeisterte.

Authentische Naturbilder – ehrlich und ohne Umschweife: Die neue Landschaftskunst entsteht in einer Zeit umfassender Industrialisierung und Verstädterung in Europa.

Umbruchszeit
Constantin Meunier, Au pays noir (Im schwarzen Land), um 1893
Öl auf Leinwand, 80,5 x 94,0 cm, Musée d’Orsay, Paris, Foto © GrandPalaisRmn (Musée d'Orsay)
In der Gewindeschneiderei Georg Fischer Werk Singen, 1904
Ernest Mésière, Arbeiter verlassen eine Fabrik, 1880
Dampflokomotive Pegnitz der Bayerischen Ludwigsbahn, hergestellt von der Lokomotivfabrik Maffei, 1880

„Wir malen heute die Natur, wie sie scheint dem unbefangnen vorurtheilslosen Blick. Nicht wie wir ‚wissen daß sie sei.‘ Naiv!“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82

Wahrhaftig und
unkonventionell

Eine unvoreingenommene Kunst schaffen – diesen Wunsch teilt Carl Schuch mit seinen Weggefährten. In München trifft er auf den Künstlerkreis um den Maler Wilhelm Leibl (1844–1900): Die Zeitgenossen verbindet die Bewunderung für die französische Kunst, besonders für den großen Gustave Courbet (1819–1877).

Gemeinsame Arbeitsstunden, geteilte Bildmotive und Maltechniken: Mit den Künstlern des Leibl-Kreises arbeitet Carl Schuch in den 1870er Jahren immer wieder eng zusammen. Vor allem mit Wilhelm Trübner (1851–1917) entwickelt sich ein reger, kreativer Austausch: In so genannten Stillleben – Darstellungen von arrangierten Gegenständen – erproben die Künstler ihr malerisches Können.

Carl Schuch, Äpfel und Birnen, 1876
Öl auf Leinwand, 45 × 54 cm, Privatsammlung, Foto © Privatsammlung
Äpfel und Birnen auf einem faltenreichen Tischtuch – Schuch hat die Farben alla prima, also ohne Vorzeichnung oder Untermalung direkt auf die Leinwand aufgetragen.
Wilhelm Trübner, Äpfel und Birnen, 1876
Öl auf Leinwand, 33,4 × 39,6 cm, Museum der bildenden Künste Leipzig, Inv.-Nr. G 3063, Foto © bpk | Museum der bildenden Künste Leipzig
Wilhelm Trübner gestaltet auch eine Version der Obstdarstellung, heller und „schärfer“ als die seines Malerfreunds: Trübners neuartige Technik – blockweise nebeneinandergesetzte Pinselstriche – eignet sich Schuch an.
Gustave Courbet, Apfelstillleben, 1871
Öl auf Leinwand, 50,4 × 63,4 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Neue Pinakothek, Inv.-Nr. 8623, Foto © bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Das Motiv des zusammengewürfelten Streuobsts ist wohl Gustave Courbet nachempfunden: Als dieser 1871 eine Haftstrafe wegen seiner politischen Aktivitäten abbüßte, malte er eine Reihe höchst origineller Apfelstilleben.
Josef Neugebauer, Früchtestillleben, o.D.
Öl auf Leinwand, 100 x 71 cm, Belvedere, Wien, Foto © Belvedere, Wien
Ein Stillleben der 1870er Jahre, das den akademischen Regeln der Bildgattung folgte: Das Fruchtarrangement strotzt vor feingemalter Opulenz. Im Vergleich müssen die Stillleben von Courbet, Schuch und Trübner auf manche wie provokante „Schmierereien“ gewirkt haben!

„Courbet hatte einen unvergleichlichen Vorzug – er war er selbst, stand auf eigenen Füßen, sah mit eigenen Augen, brach alle Konvention.“

Carl Schuch an Karl Hagemeister, Januar 1883
Courbets Einfluss

„Die jungen Leute malen hier ganz in meiner Art,“ schrieb Gustave Courbet 1869 aus München an seine Eltern. Tatsächlich faszinierte dessen Realismus und sein schillernder Ruhm eine ganze Künstlergeneration: Auch der Leibl-Kreis umschwirrte den Franzosen während seines Aufenthalts in München. Courbets Ziel war eine ungeschönte Kunst, die statt Helden und Heiligen, Landarbeiter und Mägde zeigte, statt konventionellen Bildern, kreative Darstellungsweisen und die individuelle Sichtweise des Autors. Courbets künstlerische Forderungen gingen mit seiner politischen Haltung Hand in Hand: Als sich im Deutsch-Französischen Krieg 1870 die Pariser Kommune gegen die deutschen Besatzer und die eigene Regierung Napoleons III erhob, war Courbet mit dabei: Bei der Zerstörung der Siegessäule auf der Place Vendôme – eines Symbols der Monarchie – zählte er zu den Anstiftern. Schuch war die politische Seite des Franzosen fremd: Einmal schrieb er, Courbets großes Talent habe durch dessen „Kampfattitüde“ sehr gelitten.

Gustave Courbet, Der Mann mit der Pfeife (Selbstporträt), ca. 1849
Öl auf Leinwand, 48,5 x 37,8 cm, Musée Fabre, Montpellier
Gustave Courbet, Die Steineklopfer, 1849
Öl auf Leinwand, 165 x 257cm, Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden (Kriegsverlust)

„Selbst sehen und selbst finden“ – das ist Carl Schuchs hoher Anspruch. Die etablierten Normen und Kunstgattungen – das Malen nach Regeln und Rezept, wie es an den staatlichen Kunstakademien gelehrt wurde – überlässt er den „Strebern“.

Das Ufer eines Weihers in der oberbayrischen Umgebung von München – mit dem Gemälde widerspricht Schuch den damaligen Sehgewohnheiten: Es scheint, als watete der Betrachter im flachen Wasser, der Blick trifft die Bäume der Böschung. Auf die schwelgerische Weite traditioneller Landschaftsbilder verzichtet Schuch bewusst.

Carl Schuch, Weiher, Motiv aus Oberbayern, 1871
Öl auf Leinwand, 55 × 66 cm, Museum Georg Schäfer, Schweinfurt, Inv.-Nr. MGS 346, Foto © bpk | Museum Georg Schäfer Schweinfurt

Inspiriert von den Innovationen Courbets: Schuch lehnt seine Darstellung an Vorbildern des Franzosen an. In Bilder wie dieser stimmungsvollen Bachlandschaft waren die unkonventionelle Perspektive und der knappe Himmelsausschnitt in der linken oberen Ecke vorgeprägt.

Gustave Courbet, Der Bachverlauf der Brême, 1866
Öl auf Leinwand, 114 × 89 cm, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid, Inv.-Nr. 495 (1986.2), Foto © Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid
Reine Malerei

Nicht nur in Frankreich verfolgten Künstlerinnen und Künstler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts definierte theoretische Ziele: Wilhelm Leibl, mit dessen Künstlerkreis Carl Schuch in München verkehrt, erklärt eine „Reine Malerei“ zu seiner Maxime. Unter Einfluss von Gustave Courbet entwickelt er die Vorstellung einer unverfälschten, beinahe objektiven Kunst, die nichts als das Gesehene wiedergeben soll. Dabei ist der Fokus auf Form, Farbe, Licht und Stofflichkeit – also auf das rein Malerische gerichtet. Was ein Bild zeigt war für Leibl und seine Weggefährten weniger wichtig. Sie widmeten ihrer Kunst dem Wie – den Farbgestaltungen, Pinselführungen und der inneren Haltung des Malenden.

Wilhelm Leibl, Älterer Bauer und junges Mädchen („Das ungleiche Paar“), 1876 - 1877
Öl auf Leinwand, 75,5 x 61,5 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V., Inv.-Nr. 1340, Foto © Städel Museum, Frankfurt am Main

Auf seinen Wegen durch Europa umgibt sich Schuch mit Kunst und Künstlern, die ihn bereichern und anregen. Doch festlegen, oder gar nach Moden und Markt richten, möchte er sich nicht. Als ihm die Malweisen des Leibl-Kreises zu sehr zur Routine werden, verlässt er Bayern und zieht nach Venedig.

„Man kann noch so viel gelernt haben, (…) die Spannkraft des Geistes das ist das eigentliche Talent.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82
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Schuch
in Venedig

Venedig – Stadt des Wassers! Die Jahre zwischen 1876 und 1882 verbringt Carl Schuch in der Lagune – und begegnet dem Ort mit gemischten Gefühlen.

„Venedig ist ein Sumpf für mich.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82

In Venedig wohnt Schuch ganz in der Nähe der Abbazia San Gregorio, dem ältesten Kloster der Stadt. In dem Gemälde von 1878 hält er die Fassade des Innenhofes fest. Mit ausgefeilter Pinseltechnik setzt er die Wirkung des einfallenden Sonnenlichts ins Bild.

Carl Schuch, Abbazia S. Gregorio in Venedig, 1878
Öl auf Leinwand, 84 × 69 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Foto © Niedersächsisches Landesmuseum Hannover – ARTOTHEK
Lagunenstadt
Carlo Naya, Venedig: Blick auf Markusbibliothek, Campanile und Dogenpalast, ca. 1875
Albuminpapier auf Karton, 41,3 x 54,1 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main, Inv.-Nr. St.F.145, Foto © Städel Museum, Frankfurt am Main
Die Eisenbahnbrücke von Venedig, historisches Postkartenmotiv, um 1900
Tomaso di Filippi, Perlenfädlerinnen auf San Pietro di Castello in Venedig
Fondamenta Quintavalle, IRE Venedig
Carlo Naya, Venedig: Canale Grande, 1881/82

Venedig ist heute ein Magnet des Massentourismus. Zu Schuchs Zeiten war die Lagune ruhiger, aber längst ein traditioneller Anziehungspunkt für Wohlhabende, Künstler und Intellektuelle aus Europa und der Welt. Zahlreiche Maler verewigten über Jahrhunderte die Ansichten der Häuser, Kanäle und Gondeln der einzigartigen Stadt.

„Ich sehe die Zeit kommen, wo mir Venedig viel bieten wird. Wenn ich erst noch ein paar Jahre (…) ordentlich gelandschaftert und Luft malen kann und Wasser, dann werde ich die Architektur unterordnen und nur mehr in Licht und Farbe, Schiffe, Wasser usw. malen.“

Carl Schuch an Karl Hagemeister, vor 1880

Carl Schuch scheute sich, das Farbenspiel Venedigs auf die Leinwand zu bringen. Er führt in der Lagunenstadt das Leben eines Junggesellen und widmet sich – mit großem Perfektionismus – seinen Notizen und Farbstudien in seinem Atelier.

Carl Schuch, Notizheft Venedig I, fol. 51r mit Pigmentnotizen zu Wilhelm Trübners Wildenten und Fasanen, 1880
Belvedere, Wien, Foto © Belvedere, Wien
Jungesellenleben

„Ich habe auch jetzt ein Klavier, bin viel zu Haus, frequentire vorerst alle Puffs und fühle mich im Ganzen zufriedener.“ Mit einer heute erstaunlichen Selbstverständlichkeit schildert Schuch seine Liebeseskapaden in seinen Notizbüchern und Briefen. Angelina, Venturina, Elena und Marie – manche Namen der Affären und Prostituierten sind überliefert; die Lebensgeschichten der Frauen kennen wir nicht. Er habe „noch keine Syphilis“ – so schreibt Schuch aus Venedig an einen Freund – zieht sich dann aber doch eine Sexualkrankheit zu, die ihn bis zu seinem Tod qualvoll verfolgen sollte. Seinen Lebensstil des unverheirateten Mannes teilt Schuch mit zahlreichen europäischen Künstlern, Komponisten und Literaten des 19. Jahrhunderts. In einer Zeit, in der Ehelosigkeit moralisch verpönt war, wurde die Rolle des Dandys, ewigen Junggesellen oder Hagestolzes am ehesten bei kreativen Männern toleriert. Erst im Alter von 48 Jahren heiratete Schuch, bereits schwerkrank, in Wien.

Winter im Atelier

Die Winter verbringt Schuch in seinem venezianischen Atelier. Er liest Literatur aus Frankreich, studiert akribisch Werke befreundeter Künstler und malt eigene Bilder – vor allem Stillleben.

Ein Klavier, ein Bücherregal, eine Treppe aufs Dach: Mehrfach skizziert Schuch sein venezianisches Atelier. Die Wände des Raumes schmücken Gemälde – von Wilhelm Trübner und dem ebenfalls befreundeten Maler Hans Thoma (1839-1924), aber auch eigene Werke, wie beispielsweise Hummer mit Zinnkrug und Weinglas von 1877.
Carl Schuch, Atelier in Venedig, 1881
Öl auf Leinwand, 89,2 × 66,5 cm, Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen, Foto © Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen
Kein Geld der Welt

Das Gemälde Hummer mit Zinnkrug und Weinglas hält Schuch zwischenzeitlich für eines seiner besten Werke und erwägt, es auszustellen. Doch es kommt nicht dazu: Schuch ist kaum an der Wirkung und Vermarktung seiner Kunst interessiert: Nur ein einziges Bild soll er zu Lebzeiten verkauft haben. Der Hummer wird erst 1904, auf Initiative von Wilhelm Trübner, im Berliner Kunstsalon Eduard Schulte der Öffentlichkeit präsentiert: Hugo von Tschudi, Direktor der Berliner Nationalgalerie, erwirbt es sofort für sein Museum.

Carl Schuch, Hummer mit Zinnkrug und Weinglas, 1877
Öl auf Leinwand, 61 × 75 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Inv.-Nr. A I 853, Foto © bpk | Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders

Genau schauen, erkunden und austesten: Anhand der Stilllebenmalerei untersucht Schuch die Wirkung von Farben unter verschiedenen Lichtbedingungen. Wie lässt sich der Zusammenklang des Gesehenen in einem Gemälde vermitteln? Schuch unterzieht seine malerischen Strategien immer neuen Prüfungen.

Wilhelm Trübner, Wildenten, 1873
Öl auf Leinwand, Museum Wiesbaden, Schenkung Jan und Friederike Baechle 2020, Foto © Museum Wiesbaden / Bernd Fickert
Eine Wildenten-Darstellung von Wilhelm Trübner hatte Schuch gekauft und nach Venedig mitgenommen. Dort analysiert er die Farbwerte jeder Bildstelle und notiert Sätze wie „Im Flügel Blau, Ultramarin zu Pr[eussisch] Blau.“
Carl Schuch, Wildenten und Emailletopf, um 1882–1884
Öl auf Leinwand, 62,3 × 79,8 cm, Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat, Inv.-Nr. 2022/280, Foto © Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat / Bernhard Strauss
Schuch beginnt, eigene Entenstillleben zu entwerfen. Noch einige Jahre später – als er Venedig bereits verlassen hat – malt er viele Versionen des Themas: Schuch lotet die feinsten Verschiebungen der Lichtverhältnisse und Farbabstufungen in seinen Bildern aus.
Carl Schuch, Wildente, Tontopf und Blechdose, um 1886–1894
Öl auf Leinwand, 80 × 64 cm, Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat, Inv.-Nr. 2022/289, Foto © Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat / Bernhard Strauss
Bei genauer Betrachtung der Stillleben fällt auf: Die Gemälde sind Pinselstrich für Pinselstrich „durchgebildet“. Es gibt keine klare Konturen oder harte Farb- und Lichtkontraste, aber eine fein abgestufte, verwobene Gesamterscheinung.
Carl Schuch, Wildente und Korb, um 1882–1884
Öl auf Leinwand, 53,5 × 79 cm, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 5525, Foto © Belvedere, Wien / Johannes Stoll
Auch Dunkel und Hell sind bei Schuch keine klaren Gegensätze. Dunkle Passagen malt er nie einfach mit einem schwarzen Pigment, sondern stimmt sie bewusst auf alle anderen Farben im Bild ab. In Schuchs Stillleben gibt es kein helles, ungebrochenes Licht und kein lichtfreies Dunkel.
Jean Siméon Chardin, Stillleben mit Rebhuhn und Birne, 1748
Öl auf Leinwand, 39,2 × 45,5 cm,Städel Museum, Frankfurt am Main, Eigentum des Städelschen Museums-Vereins e.V., Inv.-Nr. 2129, Foto © Städel Museum, Frankfurt am Main
Stillleben mit toten Tieren haben eine lange Tradition in der Kunstgeschichte: Der französische Maler Jean-Baptiste Chardin (1699–1779) hat dieses anrührende Bild 1748 gemalt. Schuch und viele seiner gleichgesinnten Zeitgenossen bewunderten Chardins Malerei – seine Farbgestaltungen und die lockere Malweise trafen den Zeitgeist des späten 19. Jahrhunderts.

Stillleben sind nicht gleich Stillleben – während seiner Winter in Venedig experimentiert Schuch mit größeren Formaten, die er später verwerfen und ablehnen sollte. Zu „groß“, zu „preußisch“, zu wenig auf den „Gesamtton der Erscheinung“ bedacht – so Schuch über seine aufwendigen Kompositionen aus der venezianischen Zeit.

Angelehnt an flämische Kunst des 17. Jahrhunderts: Die Kleine Trödelbude von 1878 erinnert an so genannte Vanitas-Stillleben, die auf die Vergänglichkeit aller weltlichen Dinge verweisen. Dem modernen Maler Schuch geht es weniger um die sinnbildliche Funktion der alten Kunst. In seinem Gemälde testet er die Logik der Malerei: Wie lassen sich Pinselstriche setzen, um unterschiedliche Stofflichkeiten nachzubilden? Welche Wirkung haben feine Farbabstufungen?

Peter Willebeeck, Vanitas-Stillleben, ca. 1650
Öl auf Leinwand, 88,8 x 73,7 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main, Foto © Städel Museum, Frankfurt am Main
Carl Schuch, Kleine Trödelbude, 1878
Öl auf Leinwand, 84,5 × 69,5 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Inv.-Nr. KM 169/1912, Foto © Niedersächsisches Landesmuseum Hannover – ARTOTHEK
Französische Lektüre

Schuch ist ein eifriger Leser: Nicht nur Romane, auch die neueste französische Kunst- und Kulturtheorie rezipiert er. Die großen Fragen, die Intellektuelle und Kritiker in Frankreich neu stellen, treiben ihn um: Welches Verhältnis hat die Kunst zur Wirklichkeit? Schuch liest Le Realisme (fr. „der Realismus“) von Jules Champfleury (1821–1889), einem Freund Gustave Courbets. Auch Émile Zolas (1840–1902) einschlägige Schriften zur Kunst sind ihm vertraut: Einmal fasst Schuch die komplexen Konzepte seiner Zeit in seinem Notizheft für sich zusammen: „Der Naturalismus zieht jeden Stoff in seinen Bereich natürlichen Vorstellens. Der Realismus beschränkt sich auf das Stoffgebiet des Selbsterlebten, Gesehenen.“

Titelseite von Émile Zolas Essay "Edouard Manet", Paris 1867

Sommer in der Natur

Sommerlandschaften! Von Venedig zieht es Schuch in den Sommermonaten ins österreichische Pustertal, durch Oberitalien und nach Brandenburg. Seine akribischen Studien der Wintermonate dienen letztlich dem Malen von Landschaftsbildern, Schuchs eigentlicher Leidenschaft!

„Ich muß inmitten der Natur sein, die ich male, um sie in jedem Augenblick studieren zu können, herumlaufen, suchen, gucken, drin leben, um sie ganz auf mich wirken zu lassen, in ihr ganz aufzugehen. Die wahre Landschaftsmalerei (…) verlangt diese Intimität.“

Carl Schuch an Karl Hagemeister, 30. März 1878

Sandiger Boden, Mischwälder und an Seen gelegene Dörfer – Schuch verbringt die Sommer 1879, 1880 und 1881 in Brandenburg, in Ferch am Schwielowsee und Kähnsdorf am Seddiner See, nicht unweit der rasant wachsenden Metropole Berlin.

Carl Schuch, Backofen in Ferch, 1878
Öl auf Leinwand, 70 × 84 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Inv.-Nr. A II 33, Foto © bpk | Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders

Genau beobachtet, aber nicht detailverliebt: Schuchs Bilder fangen die charakteristische Bebauung, Farbigkeit und Stimmung der Brandenburger Landschaft ein. Manche der Gemälde verraten die Orientierung an französischen Vorbildern.

Schuchs Siel bei Kähnsdorf ähnelt den Schleusenbildern des französischen Malers Charles-François Daubigny (1817–1878). Schuch hatte dessen erstes großes Schleusenbild wahrscheinlich bei einem Paris-Besuch bestaunt.

Charles-François Daubigny, Schleuse im Tal von Optevoz, um 1855
Öl auf Leinwand, 63,6 × 84,5 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Neue Pinakothek, Inv.-Nr. 8584, Foto © bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen / Nicole Wilhelms
Carl Schuch, Siel bei Kähnsdorf, 1880
Öl auf Leinwand, 71 × 94 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Neue Pinakothek, Inv.-Nr. 1075, Foto © bpk / Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Spuren des menschlichen Lebens: Siele und Schleusen zeugen von jahrtausendealten Wassertechniken – auch sie machen den Charakter einer Landschaft aus. Schuch ist darauf bedacht, die natürliche Umgebung, die er für seine Bilder wählt, intensiv zu erfahren und malt häufig en plein air, mitten in der Natur.

Unter freiem Himmel
Karl Hagemeister im Freien vor seinem Gemälde „Verschneiter Birkenwald“, um 1891/92
Foto © Karl Hagemeister Archiv und Werkverzeichnis Berlin, Foto: Hermann Hirzel
Gustave Courbet an der Staffelei, um 1863/64
John Singer Sargent, Claude Monet malt am Rande eines Waldes, ca. 1885
Öl auf Leinwand, 54,0 x 64,8 cm, Tate, London
Philipp Kester, Dachauer Malweiber, 1906
Gelatineentwicklungspapier, 13 cm x 17,5 cm, Münchner Stadtmuseum, Sammlung Fotografie, Archiv Kester, https://sammlungonline.muenchner-stadtmuseum.de/liste/contrib-detail/dachauer-malweiber-10115674
Walnusskasten mit Ölfarbentuben der Marke Lacroix, um 1900

Ob Stillleben oder Landschaftsbilder: Schuch kopiert das Gesehene nicht lediglich, sondern bildet es sorgsam mit künstlerischen Mitteln nach. Jeder Farbtupfer, jeder Pinselstrich ist bewusst gesetzt, bleibt sichtbar stehen und ist doch Teil eines stimmungsvollen und überzeugenden Gesamtgefüges.

Carl Schuch, Schilffeld bei Ferch, 1881
Öl auf Leinwand, 60 × 89 cm, Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat, Inv.-Nr. 2022/286, Foto © Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat / Bernhard Strauss

In den letzten Monaten in Venedig studiert Schuch ausgiebig die Veränderung von Farben im Sonnenlicht und malt im Sommer das Licht- und Schattenspiel im Freien.

Carl Schuch, Sägegrube, 1880
Öl auf Leinwand, 44,2 × 55,9 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. HK-1549, Foto © Hamburger Kunsthalle / Horst Ziegenfusz

In seinem Gemälde Sägegrube aus dem Sommer 1880 übersetzt Schuch die Lichtflecken in leuchtende Ocker- und Orangetöne: Er bringt die Farbe großzügig auf die Leinwand auf, ohne sie mit dem Pinsel zu vermalen. Schuch „materialisiert“ die Wirkung des Sonnenlichts.

Carl Schuch, Sägegrube, 1880
Öl auf Leinwand, 44,2 × 55,9 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv.-Nr. HK-1549, Foto © Hamburger Kunsthalle / Horst Ziegenfusz

„Ihnen [den Franzosen] ist zuerst aufgegangen, wie das Leben der Landschaft in Licht und Luft besteht, in den atmosphärischen Verhältnissen, die in die Kunst übersetzt den jeweiligen Ton, die Stimmung des Bildes gibt.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82

Lichteffekte, Farbwirkungen und die Stimmung einer Landschaft nachbilden – die französische Kunst bleibt Schuchs Inspiration: Es drängt ihn schließlich von Venedig nach Paris, dem damaligen Dreh- und Angelpunkt der Kunstwelt.

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Schuch
in Paris

In der Hauptstadt der kulturellen Moderne! Schuch blickt nicht mehr aus der Ferne nach Frankreich. Von 1882 bis 1894 ist er in der Kunstmetropole Paris mitten im Geschehen.

„Venedig hat mich sehr krank gemacht: – Paris ist der klimatische Curort des Geistes.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1882

Paris ist damals das Zentrum der innovativsten Kunstströmungen Europas: Die anfangs verpönte Malerei des Impressionismus hat sich inzwischen Bahn gebrochen und wird von wieder neuen Formen der modernen Kunst abgelöst – in einer Großstadt im Umbruch!

Carl Schuch, Pariser Häuser, um 1871/72
Öl auf Leinwand, 63 × 50 cm, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 3706, Foto © Belvedere, Wien / Johannes Stoll
Stadt des Lichts
Charles Marville, Abrissarbeiten zwischen der Rue de l'Échelle und Rue Saint Augustin, 1877
J. Paul Getty Museum, Brown University Library
Charles Marville, Laternenpfahl, Eingang zur École des Beaux-Arts , um 1870
Albumin-Silberabzug von Glasnegativ, 35,6 x 25,4 cm, Sammlung W. Bruce und Delaney H. Lundberg
Notre-Dame de Paris, 19. Jahrhundert
Edgar Degas, Das Café Konzert (Das Lied des Hundes), 1875-77
Gouache, Pastell und Monotypie, 57,5 x 45,5 cm, Privatsammlung
Menschen unter dem Pariser Eiffelturm während der Weltausstellung, 1889
Kunstwelt Paris

„Ein Künstler hat in Europa kein Zuhause, außer in Paris“ – so war 1888 Friedrich Nietzsche (1844–1900) überzeugt. Kunstszene und Kunstmarkt der Metropole suchen damals weltweit ihresgleichen. Carl Schuch schöpft aus dem Vollen: Er besucht den Salon des artistes français, eine große Ausstellung aktuellster Kunst, die als jährlicher Höhepunkt im Pariser Kunstbetrieb galt. Auch bei Auktionen im Hôtel Drouot, dem wichtigsten Ort des Pariser Kunsthandels, ist er zugegen. In den einflussreichen Galerien von Charles Sedelmeyer, Paul Durand-Ruel und Georges Petit sieht er unter anderem Ausstellungen der Impressionisten.

Edouard Dantan, Eine Ecke des Salons im Jahr 1880, 1880
Öl auf Leinwand, 97,2 x 130,2 cm, Privatsammlung
Werbeanzeige für Charles Sedelmeyers Galerie in Paris

Farbenspiele

Lockere, sichtbar belassene Pinselstriche und kontrastreiche Farben – Schuch beschäftigt sich ausgiebig mit der impressionistischen Malerei. Besonders die Gemälde von Édouard Manet (1832–1883) und Claude Monet (1840–1926) schätzt er sehr.

„Es ist im Impressionismus ein Versuch zu einer strengern Anschauung in Farbe und naturwahrern Wirkung zu kommen – das ist das Fünkchen.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1883/84
Édouard Manet, Blumen in einer Kristallvase, um 1882
Öl auf Leinwand, 32,7 × 24,5 cm, National Gallery of Art, Washington, D. C., Ailsa Mellon Bruce Collection, Inv.-Nr. 1970.17.37, Foto © National Gallery of Art, Washington
Vielleicht hat Schuch dieses kleine Gemälde im Januar 1884 gesehen – auf einer großen Sonderschau zu Ehren des gerade verstorbenen Édouard Manet in der Kunsthochschule von Paris. Schuch besucht die Schau gleich mehrmals: Er hält Manet für einen der innovativsten Künstler seiner Zeit.
Édouard Manet, Blumen in einer Kristallvase (Detail), um 1882
Öl auf Leinwand, 32,7 × 24,5 cm, National Gallery of Art, Washington, D. C., Ailsa Mellon Bruce Collection, Inv.-Nr. 1970.17.37, Foto © National Gallery of Art, Washington
Ganz anders als ein klassisches Stillleben: Die Darstellung ist skizzenhaft – stellenweise ist die Leinwand unbemalt – und doch ist es ein fertiges, signiertes Werk. Mit wenigen, bewegten Pinselzügen hat Manet teils kräftige, unvermischte Farben neben- und ineinandergemalt: ein lebendiges Erscheinungsbild!
Claude Monet, Vase mit Pfingstrosen, 1882
Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm, Privatsammlung
Ein Pfingstrosenstrauß von Claude Monet: Die kurzen, nebeneinandergesetzten Pinselstriche und die kontrastreichen Farben sind typisch für die impressionistische Malerei. Sie erzeugen für den menschlichen Sehapparat den Eindruck einer flirrenden Bewegtheit, der dem natürlichen Licht- und Farbenspiel gleichen kann.
Claude Monet, Vase mit Pfingstrosen (Detail), 1882
Öl auf Leinwand, 100 × 81 cm, Privatsammlung
Eine Blüte des Pfingstrosenstraußes fällt herunter – das Gemälde vermittelt den Eindruck eines einzelnen, unwiederholbaren Moments. Nicht von ungefähr prägten Pariser Kunstkritiker den Begriff des „impressionisme“ (von franz. „impression“, der Eindruck) für die Kunst von Monet und seinen Mitstreitern.
Erforschung der Farben

Rot und Grün oder Blau und Orange – in den Bildern der Pariser Maler finden sich starke Farbkontraste, so genannte Komplementärkontraste. Jeder der drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau ist zur Mischung der beiden anderen komplementär, ergibt also für den menschlichen Sehapparat einen besonders starken Kontrast. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich Theoretiker und Naturwissenschaftler ausgiebig mit den Gesetzmäßigkeiten der Farben. Vor allem die Schriften des Chemikers Eugène Chevreul waren in Künstlerkreisen sehr verbreitet. Chevreul definierte auch den Simultankontrast: Wenn zwei Farben direkt nebeneinander gesehen werden, beeinflussen sie sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Schuch und seine Zeitgenossen nutzen die farbtheoretischen Erkenntnisse für die Farbgestaltung ihrer Kunstwerke.

Darstellung aus Michel Eugène Chevreuls „Farben und ihre Anwendung in der industriellen Kunst mithilfe von Farbkreisen“
© Courtesy of Science History Institute

Rosenblüten, mit lockeren, kurzen Pinselstrichen gemalt – das Bild Pfingstrosen, Silber- und Glasbecher verrät Schuchs Beschäftigung mit der impressionistischen Kunst. Doch während die Maler des Impressionismus das natürliche Licht unmittelbar in unvermischte, durchweg helle Farben übersetzen, tönt Schuch viele Farben ab, bevor er sie auf die Leinwand aufbringt.

Carl Schuch, Pfingstrosen, Silber- und Glasbecher, um 1886–1894
Öl auf Leinwand, 63 × 78,2 cm, Staatsgalerie Stuttgart, Leihgabe der Freunde der Staatsgalerie seit 1906, Inv.-Nr. GVL 22, Foto © bpk | Staatsgalerie Stuttgart

„Man mag sehr viel verschiedene Farben durcheinanderbringen und mischen nach seinen Zwecken aber immer muß wieder der Grundton eingreifen, bändigen, harmonisiren, zusammenfassen und auf sich beziehen.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82

Starke Farbkontraste als Ausgangspunkt eines Bildes! Im Unterschied zu den Impressionisten arbeitet Schuch diese jedoch zu einem Gewebe aus feinen Farbabstufungen und -Bezügen aus. Ein „neutraler Grund“ – in diesem Gemälde die weiße Serviette und der Zinnteller – sollen das Zusammenspiel der vielen Farbtöne besonders gut zur Geltung bringen. Ein so komponiertes Bild bezeichnet Schuch ab 1885 als „coloristische Handlung.“

Carl Schuch, Kürbis, Pfirsiche und Weintrauben, um 1884–1897
Öl auf Leinwand, 62 × 81 cm, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 1358, Foto © Belvedere, Wien / Johannes Stoll
Farbpunkte

1886 erlebt Schuch die Erstausstellung des Gemäldes Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte von Georges Seurat (1859–1891). Das heute hochberühmte Bild wird schnell zum Pariser Stadtgespräch: Bestehend aus dicht gesetzten, verschiedenfarbigen Punkten und Strichen, erstaunt es die Betrachter. Erst der menschliche Sehapparat lässt die Punkte als einheitliche Farb- und Formfeldern erscheinen. Mit dem Sensationsbild war der Neoimpressionismus begründet. Die Anhänger dieser Kunstströmung arbeiteten nach streng formalen Prinzipien: Sie studierten nicht nur die farbtheoretische Literatur ihrer Zeit, sondern waren auch mit den jüngsten Studien der Sinnesphysiologie vertraut. Wissenschaftliche Erkenntnisse über das Sehen, über die menschliche Wahrnehmung, bedingten ihre Werke.

Georges Seurat, Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte, 1884-86 (Seitenränder 1888-89)
Öl auf Leinwand, 207,5 x 308,1 cm, Helen Birch Bartlett Memorial Collection, Art Institute Chicago, Foto © Art Institute Chicago
Georges Seurat, Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte (Detail), 1884-86 (Seitenränder 1888-89)
Öl auf Leinwand, 207,5 x 308,1 cm, Helen Birch Bartlett Memorial Collection, Art Institute Chicago, Foto © Art Institute Chicago

Wider die Jüngerschaft! Schuch erfasst die Kunstströmungen im Paris der 1880er mit ihren künstlerischen und theoretischen Zielen, doch Mitmachen möchte er nicht. Vom Impressionismus lässt er sich inspirieren und findet doch eigene Lösungen.

„(…) schon geht es dem Impressionismus so, zu Anfang schon trampeln sie den Funken aus, der drin glüht – jeder will sich auszeichnen und überbietet an Manier – statt an Geist und Selbstsuchen.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch 1883/84

Eine eigene Sehweise

Ein Künstler muss seinen eigenen Weg gehen – dieser Grundsatz begleitet Schuch sein Leben lang. Sehen ist subjektiv – das bestätigen auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Schuch teilt mit seinen Pariser Zeitgenossen das große Interesse an Fragen der Optik und Sinnesphysiologie.

Édouard Manet, Spargelbündel, 1880
Öl auf Leinwand, 46 × 55 cm, Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, Köln, Inv.-Nr. Dep. 318, Foto © bpk | Rheinisches Bildarchiv Köln
Ein Bündel Spargel, aus der Sicht eines großen Künstlers! – Édouard Manets Spargelstillleben beeindruckt Schuch 1884 in Paris. Bis heute ist das Bild eine Ikone moderner Malerei: Es bezeugt die momenthafte Begegnung zwischen Künstler und Gegenstand.
Carl Schuch, Serviette und Spargelbund, 1883 und später
Öl auf Leinwand, 64 × 79 cm, Arp Museum Bahnhof Rolandseck / Sammlung Rau für UNICEF, Inv.-Nr. GR 1.513, Foto © Arp Museum Bahnhof Rolandseck / Sammlung Rau für UNICEF/ Mick Vincenz, Essen
Angeregt durch Manets Bild malt Schuch eine ganze Serie von Spargelstillleben. Er kombiniert das Spargelbündel mit immer neuen Gegenständen – hier mit einem Zinnteller, einem rechteckigen Korb mit Klappdeckel und einer hingeworfenen Serviette.
Carl Schuch, Spargelbund, Glas und Tonkasserolle, um 1886–1894
Öl auf Leinwand, 79 × 63 cm, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München – Neue Pinakothek, Inv.-Nr. 8907, Foto © bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Jedes Spargelstillleben besticht durch einen eigenen Farbklang, eine eigene Stimmung – mal kühler, mal wärmer. Schuch übersetzt das Gesehene in immer neue, ausgeklügelte Kompositionen aus Gegenständen, Licht und Farbabstufungen.
Carl Schuch, Apfelkorb, Spargelbund und Zinnkrug, um 1886–1894
Öl auf Leinwand, 62 × 77,5 cm, Kunstmuseen Krefeld, Inv.-Nr. GV 1916/200, Foto © Kunstmuseen Krefeld / Volker Döhne – ARTOTHEK
Objektives Sehen gibt es nicht: Diese Erkenntnis setzt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch. Was ein Mensch sieht, ist nicht nur von Licht, Luft und Farbe einer sich ständig wandelnden Umgebung abhängig, sondern auch von den Empfindungen, der psychischen und physiologischen Verfasstheit eines Individuums.
Carl Schuch, Atelier in Paris, um 1885
Öl auf Leinwand, 65,5 × 82 cm, Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat, Inv.-Nr. 2022/293, Foto © Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum,
Was bedeutet es, die Wirklichkeit in einem Bild wiederzugeben? Darüber scheint Schuch mit dieser Skizze seines Pariser Ateliers nachzudenken. Auf der Staffelei entsteht eins seiner Spargelstillleben; auf einem Tisch rechts daneben sind auf rohen Brettern die zu malenden Gegenstände arrangiert.

„Jeder Mensch ist ein Unicum und in der Zusammensetzung nur einmal da.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82

Neueste Forschungen zum menschlichen Sinnesapparat hinterfragen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Idee einer rein objektiven, stabilen Wahrnehmung der sichtbaren Welt. Die Vorläufer der Neurowissenschaften belegen damals schon: Bestimmte Wahrnehmungsmuster sind physiologisch gesteuert. Visuelle Reize werden außerdem mit individuell Vorgeprägtem und Erinnertem abgeglichen. Schuch und viele seiner französischen Zeitgenossen beschäftigen sich ausgiebig mit den bahnbrechenden Erkenntnissen.

Physiologie und Optik

Keine einzelnen Bilder, sondern Bilderfolgen – in Paris tariert Schuch seine Stillleben immer neu aus. Er ändert die Anordnung der Gegenstände und ihre Farbgestaltung manchmal kaum merklich ab. Schuch näherte sich Bild für Bild einer Wirklichkeit, deren Erscheinung wandelbar und fragmentiert ist.

Carl Schuch, Äpfel auf Weiß, mit Messer, um 1886–1894
Öl auf Leinwand, 61,5 × 78,5 cm, Niedersächsisches Landesmuseum Hannover, Inv.-Nr. PNM 940, Foto © Niedersächsisches Landesmuseum Hannover – ARTOTHEK
Eine Bilderfolge aus drei Stillleben: Die Rot- und Gelbtöne der Äpfel leuchten auf der weißen Tischdecke. Die Spiegeleffekte auf der Glaskaraffe und dem Zinnbehälter verstärken das Licht- und Farbenspiel.
Carl Schuch, Äpfel auf Weiß, mit geschältem Apfel, um 1886–1894
Öl auf Leinwand, 66,2 × 81,6 cm, Kunstpalast, Düsseldorf, Inv.-Nr. M 4527, Foto © Kunstpalast, Düsseldorf
Beinahe dieselbe Szene, und doch eine neue Gesamterscheinung. Schuch malt die Tischdecke mit jeweils anderen Farbtönen und Pinselzügen: Das Gewebe erscheint nicht als feste Oberfläche – vielmehr als bewegte Masse oder Landschaft, mal fließend, mal schroff.
Carl Schuch, Äpfel auf Weiß, mit halbem Apfel, um 1886–1894
Öl auf Leinwand, 63 × 79 cm, Städel Museum, Frankfurt am Main, Inv.-Nr. SG 960, Foto © Städel Museum, Frankfurt am Main
Der Apfel im Vordergrund deutet eine zeitliche Abfolge der drei Bilder an: Vom Schälen bis zum Verspeisen des Apfels. Nur wenige Augenblicke trennen die vermeintliche Handlung, und doch wandelt sich die Erscheinung der Welt – jedes Bild hat seinen eigenen Klang.
Schuch und Cézanne

Schuch wurde schon kurz nach seinem Tod immer wieder mit Paul Cézanne (1839–1906), dem „Urvater der Moderne“, verglichen. Ob die beiden Künstler sich in Paris begegnet sind, ist ungewiss. Auf die Darstellung des flüchtigen Natureindrucks in den Bildern der Impressionisten antworten beide Künstler mit einer malerischen Erkenntnissuche: Wie lassen sich Bilder gestalten, die den Gesetzmäßigkeiten der Welt und ihrer individuellen Wahrnehmung gerecht werden? Was ist – bei aller Unbeständigkeit – der Zusammenhang des Sichtbaren? Um diesen Fragen gerecht zu werden, entwickeln Schuch und Cézanne ihre ganz eigene, unverwechselbare Bildsprache.

Paul Cézanne, Stillleben mit Obstschale, Äpfeln und Brot, 1879/80
Öl auf Leinwand, 55,1 × 74,4 cm, Die Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Kultur, Sammlung Oskar Reinhart „Am Römerholz“, Winterthur, Inv.-Nr. 1921.2, Foto © Sammlung Oskar Reinhart „Am Römerholz“, Winterthur

Schuch zeigt sich in seinen Bildern: Vom Zurechtrücken der Gegenstände bis hin zu den offen erkennbaren Pinselstrichen – der gestaltende Eingriff des Künstlers ist offensichtlich. Das individuelle Temperament, das besonders feine Gespür des Malenden macht Kunst aus, so ist Schuch überzeugt.

„Nicht blos auf das Wie (individuell) sondern auf die Intensität auch der Empfindung kommt es an in dem künstlerischen Ausdruck.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch, 1881/82

Zart, melancholisch und düster – manche Stillleben aus Schuchs Pariser Jahren erinnern an Musikstücke in Moll. Diese Gemälde von Schuch und seines Zeitgenossen Antoine Vollon teilen eine traurige Grundstimmung. Sie vermitteln eine tiefe Nachdenklichkeit, die sich deutlich von der momenthaften Farbigkeit der Impressionisten unterscheidet.

Antoine Vollon: Krug und Eier, 1892
Öl auf Holz, 45,7 × 60,8 cm, Musée des Beaux-Arts, Lyon, Inv.-Nr. B 537, Foto © Musée des Beaux-Arts, Lyon / Alain Basset
Carl Schuch, Ingwertopf mit Zinnkanne und Teller, um 1885–1888
Öl auf Leinwand, 65 × 81 cm, Museum Wiesbaden, Inv.-Nr. M 597, Foto © Museum Wiesbaden / Bernd Fickert
Unter der Oberfläche

Manchmal lohnt der Blick unter die Oberfläche eines Gemäldes: Mithilfe von strahlenbasierten, zerstörungsfreien Analysemethoden wurde Schuchs Ingwertopf mit Zinnkanne und Teller untersucht. Unter der obersten Malschicht verbergen sich andere Kompositionen, die Schuch übermalte und veränderte. Eine dieser verworfenen Kompositionen ist in der digitalen Röntgenaufnahme zu erkennen, eine Zinnkanne, ein Teller, Knoblauch und ein rechteckiger Korb. In der ausgeführten Malerei rückte Schuch die Zinnkanne nach rechts und fügte den Ingwertopf hinzu. Nicht nur in seinen Bilderfolgen, auch auf ein und derselben Leinwand war Schuch unermüdlich, immer neue Bildzusammenhänge zu erkunden.

Carl Schuch, Ingwertopf mit Zinnkanne und Teller
um 1885–1888, Öl auf Leinwand, 65 × 81 cm, Museum Wiesbaden, Inv.-Nr. M 597, Foto © Museum Wiesbaden -Bernd Fickert / Digitale Röntgenaufnahme, Foto © Städel Museum -Stephan Knobloch

„[Ein Kunstwerk] ist ein Stück Wahrheit, gesehen durch ein Temperament.“

Carl Schuch in seinem Notizbuch nach Émile Zola, 1881/82
4

Schuch
essenziell

Die sichtbare Welt erkunden und bezeugen – dabei bleibt die Landschaftsmalerei Carl Schuchs eigentliches Anliegen. Auch während seiner zwölf Jahre in Paris, verbringt er die Sommermonate in der Natur. In der Franche-Comté, am Rande des Jura, entstehen hinreißende Landschaftsgemälde.

„Das einzig Auszuführende ist mir in der Landschaft die Farbe.“

Carl Schuch an Karl Hagemeister, 30.3.1880
Carl Schuch, „Les Rapides“ im Doubs, um 1886–1893
Öl auf Leinwand, 61 × 82,4 cm, Leopold Museum, Wien, Inv.-Nr. LM 230, Foto © Leopold Museum, Wien

Steine im Flussbett des Doubs – sie genügen Schuch für seine malerische Auf- und Hingabe: Es sind keine spektakulären Panoramen oder dramatischen Naturformationen, die ihn in die Franche-Comté, die Heimat seines Vorbilds Gustave Courbet, locken. Sieben oder acht Sommer verbringt Schuch nach 1886 in der Juralandschaft an der französisch-schweizerischen Grenze.

Juralandschaft
Postkarte aus dem Franche Comté
Postkarte der Stromschnellen des Doubs
Postkarte eines Wasserfalls des Doubs
Postkarte des Hotel am Saut du Doubs
Carl Schuch, Hotel am Saut du Doubs (Häuser am Felsabhang), um 1886–1893
Öl auf Leinwand, 61 × 81 cm, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv.-Nr. 2768, Foto © bpk / Staatliche Kunsthalle Karlsruhe / Annette Fischer / Heike Kohler
Gustave Courbet, Wanderer ruhen sich in einem Felsunterstand aus , o.D.
10,1 x 13,6 cm, Grafitstift, Musée d‘Orsay, Paris, Inv.-Nr. RF 9105, Foto © GrandPalaisRmn (Musée d'Orsay) / Tony Querrec

Schuch wendet in der Landschaftsmalerei an, was er in den Stillleben erprobt hat: Bestimmte Ausschnitte der Landschaft malt er mehrfach in Bilderfolgen. Wie verändert sich das Bildgefüge angesichts unterschiedlicher Licht- und Witterungsverhältnisse? Welche Empfindungen schwingen dabei mit? Und was ist – trotz aller Wandelbarkeit – der Zusammenhang der anschaulichen Natur?

Carl Schuch, An den Bassins du Doubs (Felswand am Saut du Doubs), um 1886–1893
Öl auf Leinwand, 79 × 62,5 cm, Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat, Inv.-Nr. 2022/288, Foto © Städtische Museen Freiburg, Augustinermuseum, Leihgabe Sammlung Morat / Bernhard Strauss
Am Ufer des Flusses Doubs ragt ein Kalksteinfelsen empor. Schuch gibt den Anblick bei hellem, sonnigen Tageslicht wieder: Trotz der nahen, engen Ansicht und dem Verzicht auf eine detaillierte Ausarbeitung des Gemäldes, ist doch die Landschaft authentisch erfasst.
Carl Schuch, An den Bassins du Doubs, um 1886–1893
Öl auf Leinwand, 81 × 59 cm, Pommersches Landesmuseum Greifswald, Foto © Pommersches Landesmuseum Greifswald
Derselbe Ort im Dämmerlicht – die aufkommende Dunkelheit schluckt die Farben und Konturen der Landschaft. Schuch übersetzt das natürliche Phänomen in eine besonders „massige“ Malerei. Das Bild führt die Grenzen von Wahrnehmung und Weltzusammenhang vor Augen.
Claude Monet, Blick auf die Creuse bei trübem Wetter, 1889
Öl auf Leinwand, 73,5 × 92,5 cm, Von der Heydt-Museum Wuppertal, Inv.-Nr. G 1235, Foto © Von der Heydt-Museum Wuppertal
Etwa zur gleichen Zeit malt Claude Monet das Tal des Flusses Creuse, mitten in Frankreich. Satte, kühle Blau-, Violett- und Grüntöne übersetzen den Natureindruck bei trübem Wetter. Das Bild steht für die Überzeugung der Impressionisten: Die Natur zeigt sich nur ein einziges Mal so, wie sie der Maler in einem bestimmten Moment gesehen hat.
Claude Monet, Das Tal der Creuse bei Sonnenuntergang, 1889
Öl auf Leinwand, 73 x 70,5 cm, Musée Unterlinden, Colmar, Foto © Musée Unterlinden, Colmar
Monets Bilderserien sind hochberühmt: Auch das Tal der Creuse hat er mehrfach gemalt, hier im warmen Abendlicht. Schatten, Licht und Stimmung werden in reine Farben übersetzt. Monets Bilder liefern eine moderne Ansicht des Flusstals; Schuchs Gemälde hingegen fragen nach dem Wesen einer Landschaft, nach ihrem Zusammenklang.

Naturgeheimnisse

Eine sanfte Farbigkeit und stimmungsvolle Schönheit – mit etwas Abstand betrachtet könnte man Schuchs Bilder für konventionelle Landschaftsgemälde halten. Doch nähert man sich den Bildern, erscheint ihre Struktur teils unruhig und heftig bewegt. Schuch zeigt mehr als die Oberfläche der Dinge.

„Wir müssen unsre Bilder tiefer malen als die Natur (…).“

Carl Schuch in seinem Notizbuch 1881/82
Carl Schuch, Sägewerk am Saut du Doubs, um 1886–1893
Öl auf Leinwand, 61,5 × 83,5 cm, Lentos Kunstmuseum Linz, Inv.-Nr. 111, Foto © Lentos Kunstmuseum Linz

Melancholisch steht das alte Sägewerk am Fluss – Wasser rinnt über urgesteinsartige Felsen: Ein berührendes Bild. Schuchs Gewebe aus Pinselzügen und Farben bleibt unergründlich: An Stellen scheint es, als würde die Malerei die Naturformen regelrecht durchdringen, ihre tiefen Strukturen und Zusammenhänge im Bild erspüren.

Dieses Gemälde hat nicht Carl Schuch, sondern Gustave Courbet gemalt. Es zeigt den Ursprung des Flusses Loue bei Courbets Geburtsort Ornans. Die Gemälde seiner Heimat schwanken zwischen Symbolik und Naturschilderung. Als Sinnbilder des Ursprungs erfassen sie erdzeitgeschichtliche Vorstellungen:  Gesteinsschichten und Wasserläufe zeugen von der jahrmillionenalten Entstehung der Landschaft. Schuch wandelt am Rand des Juragebirges auf Courbets Spuren.

Gustave Courbet, Die Quelle der Loue, 1864
Öl auf Leinwand, 99,7 x 142,2 cm, H. O. Havemeyer Collection, Bequest of Mrs. H. O. Havemeyer, 1929, Metropolitan Museum, New York, Foto © Metropolitan Museum, New York
Courbets Felsschichten

Farbschicht um Farbschicht – die Felsen und Gesteinsschichten der Juralandschaft bildete Gustave Courbet mit dem Palettmesser – einer Art „Malspachtel“ – auf der Leinwand nach. Einerseits wurde der Künstler wegen seiner unkonventionellen Technik verlacht, andererseits besonders geschätzt: Seine Darstellung des Roche Pourrie (franz. für „verrotteter Felsen) gab der Geologe Jules Marcou (1824–1898) in Auftrag: Er bewunderte Courbets Präzision in der Wiedergabe der Gesteinsformationen. Als kleine, kaum erkennbare Gestalt hat Courbet den befreundeten Wissenschaftler ins Gemälde gesetzt. Theorien über Felsformationen und Gebirgsbildungen wurden im 19. Jahrhundert erstmals systematisch entwickelt. Die Vorstellung, dass Gesteinsmassen sich über Millionen von Jahren bewegen und die Tiefenzeit unserer Erde in sich tragen, versetzte nicht nur Courbet in Staunen.

André Gill, Karikatur „G. Courbet“, veröffentlicht in „Nouveau Panthéon charivarique“, 1867
Gustave Courbet, La Roche Pourrie ("Das verwitterte Gestein"), 1864
Collection Musée de la Grande Saline / Dépôt Musée des Beaux-Arts de Dole, Foto © H. Bertrand
Gustave Courbet, La Roche Pourrie ("Das verwitterte Gestein", Detail), 1864
Collection Musée de la Grande Saline / Dépôt Musée des Beaux-Arts de Dole, Foto © H. Bertrand

Wie lassen sich Gesteinsstrukturen in einem Gemälde erfassen? – Schuch orientiert sich an Courbets Spachteltechnik, um die Steine des Jura zu malen. Mit dem Palettmesser schichtet und strukturiert er die Farbe auf der Leinwand.

Carl Schuch, „La petite chute“ im Doubs, um 1886–1893
Öl auf Leinwand, 60,3 × 81,8 cm, Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen, Foto © Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen

Schuchs Schilderung der Stromschnellen des Doubs haben einen kaum greifbaren Charakter: Die Formen der Natur lösen sich in faszinierenden Farbtongestaltungen auf, die räumliche Ordnung verschwimmt.

Carl Schuch, „La petite chute“ im Doubs, um 1886–1893
Öl auf Leinwand, 60,3 × 81,8 cm, Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen, Foto © Sammlung Andreas Gerritzen, Bremen

Schuch schreibt einmal, er wolle mit seiner Kunst im Zusammenklang der Farben etwas Essenzielles festhalten – die „ätherische Essenz der Erscheinung“ über die Malerei vermitteln.

Ätherisch

Für heutige Ohren mag Schuchs Formulierung von der „ätherischen Essenz“ esoterisch klingen. In den 1880er Jahren war der Begriff jedoch eine Vokabel der Physik. Die Vorstellung eines Äthers, eines unsichtbaren, allumfassenden Mediums, war Teil des naturwissenschaftlichen Weltbilds. Seit dem 17. Jahrhundert wurde die Theorie des Äthers – den man sich elastisch verformbar vorstellte – immer wieder postuliert, um die Verbreitung von Wellen zu erklären. Schuch war wohl mit der Idee vertraut, dass der Äther – als den ganzen Raum durchdringendes Medium – elektromagnetische Wellen, also vor allem Licht, übertrüge und damit die sichtbare Natur bestimmte. Erst durch Albert Einsteins (1871–1955) Spezielle Relativitätstheorie verlor die Äther-Hypothese Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Gültigkeit.

„Und die Bedeutung des Tons ist die, dass er den Dingen das Materielle nimmt und nur die ätherische Essenz der Erscheinung festhält.“

Carl Schuch an Karl Hagemeister, undatiert

Carl Schuch – ein tiefgründiger, faszinierender Künstler, den es wiederzuentdecken lohnt! Wer seine Bilder im Original erlebt und sich Zeit nimmt, kann sich hinreißen lassen. Seine Gemälde entstanden in rasanten Umbruchszeiten und schildern doch die tiefe Schönheit unserer Welt. Sie laden zum Genießen, Nachdenken und Staunen ein.

Blickfang

Ganze zwei Meter breit! Vereinzelt überträgt Carl Schuch seine Vision der Natur der Franche-Comté auf besonders große Bildformate. Dieses Gemälde ist als „Höhepunkt“ seiner Kunst beschrieben worden: Es lädt zum Eintauchen und Staunen ein! Nur vor dem physischen Kunstwerk lässt sich die Leuchtkraft der Farbkombinationen und die atemberaubende Dichte und Tiefe der Malerei erfassen.

Carl Schuch, Waldinneres beim Saut du Doubs, um 1886–1893
Öl auf Leinwand, 150 × 200 cm, Belvedere, Wien, Inv.-Nr. 1096, Foto © Belvedere, Wien / Johannes Stoll
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