Schuch
in Paris
In der Hauptstadt der kulturellen Moderne! Schuch blickt nicht mehr aus der Ferne nach Frankreich. Von 1882 bis 1894 ist er in der Kunstmetropole Paris mitten im Geschehen.
„Venedig hat mich sehr krank gemacht: – Paris ist der klimatische Curort des Geistes.“
Paris ist damals das Zentrum der innovativsten Kunstströmungen Europas: Die anfangs verpönte Malerei des Impressionismus hat sich inzwischen Bahn gebrochen und wird von wieder neuen Formen der modernen Kunst abgelöst – in einer Großstadt im Umbruch!
„Ein Künstler hat in Europa kein Zuhause, außer in Paris“ – so war 1888 Friedrich Nietzsche (1844–1900) überzeugt. Kunstszene und Kunstmarkt der Metropole suchen damals weltweit ihresgleichen. Carl Schuch schöpft aus dem Vollen: Er besucht den Salon des artistes français, eine große Ausstellung aktuellster Kunst, die als jährlicher Höhepunkt im Pariser Kunstbetrieb galt. Auch bei Auktionen im Hôtel Drouot, dem wichtigsten Ort des Pariser Kunsthandels, ist er zugegen. In den einflussreichen Galerien von Charles Sedelmeyer, Paul Durand-Ruel und Georges Petit sieht er unter anderem Ausstellungen der Impressionisten.
Farbenspiele
Lockere, sichtbar belassene Pinselstriche und kontrastreiche Farben – Schuch beschäftigt sich ausgiebig mit der impressionistischen Malerei. Besonders die Gemälde von Édouard Manet (1832–1883) und Claude Monet (1840–1926) schätzt er sehr.
„Es ist im Impressionismus ein Versuch zu einer strengern Anschauung in Farbe und naturwahrern Wirkung zu kommen – das ist das Fünkchen.“
Rot und Grün oder Blau und Orange – in den Bildern der Pariser Maler finden sich starke Farbkontraste, so genannte Komplementärkontraste. Jeder der drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau ist zur Mischung der beiden anderen komplementär, ergibt also für den menschlichen Sehapparat einen besonders starken Kontrast. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigten sich Theoretiker und Naturwissenschaftler ausgiebig mit den Gesetzmäßigkeiten der Farben. Vor allem die Schriften des Chemikers Eugène Chevreul waren in Künstlerkreisen sehr verbreitet. Chevreul definierte auch den Simultankontrast: Wenn zwei Farben direkt nebeneinander gesehen werden, beeinflussen sie sich gegenseitig in ihrer Wirkung. Schuch und seine Zeitgenossen nutzen die farbtheoretischen Erkenntnisse für die Farbgestaltung ihrer Kunstwerke.
Rosenblüten, mit lockeren, kurzen Pinselstrichen gemalt – das Bild Pfingstrosen, Silber- und Glasbecher verrät Schuchs Beschäftigung mit der impressionistischen Kunst. Doch während die Maler des Impressionismus das natürliche Licht unmittelbar in unvermischte, durchweg helle Farben übersetzen, tönt Schuch viele Farben ab, bevor er sie auf die Leinwand aufbringt.
„Man mag sehr viel verschiedene Farben durcheinanderbringen und mischen nach seinen Zwecken aber immer muß wieder der Grundton eingreifen, bändigen, harmonisiren, zusammenfassen und auf sich beziehen.“
Starke Farbkontraste als Ausgangspunkt eines Bildes! Im Unterschied zu den Impressionisten arbeitet Schuch diese jedoch zu einem Gewebe aus feinen Farbabstufungen und -Bezügen aus. Ein „neutraler Grund“ – in diesem Gemälde die weiße Serviette und der Zinnteller – sollen das Zusammenspiel der vielen Farbtöne besonders gut zur Geltung bringen. Ein so komponiertes Bild bezeichnet Schuch ab 1885 als „coloristische Handlung.“
1886 erlebt Schuch die Erstausstellung des Gemäldes Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte von Georges Seurat (1859–1891). Das heute hochberühmte Bild wird schnell zum Pariser Stadtgespräch: Bestehend aus dicht gesetzten, verschiedenfarbigen Punkten und Strichen, erstaunt es die Betrachter. Erst der menschliche Sehapparat lässt die Punkte als einheitliche Farb- und Formfeldern erscheinen. Mit dem Sensationsbild war der Neoimpressionismus begründet. Die Anhänger dieser Kunstströmung arbeiteten nach streng formalen Prinzipien: Sie studierten nicht nur die farbtheoretische Literatur ihrer Zeit, sondern waren auch mit den jüngsten Studien der Sinnesphysiologie vertraut. Wissenschaftliche Erkenntnisse über das Sehen, über die menschliche Wahrnehmung, bedingten ihre Werke.
Wider die Jüngerschaft! Schuch erfasst die Kunstströmungen im Paris der 1880er mit ihren künstlerischen und theoretischen Zielen, doch Mitmachen möchte er nicht. Vom Impressionismus lässt er sich inspirieren und findet doch eigene Lösungen.
„(…) schon geht es dem Impressionismus so, zu Anfang schon trampeln sie den Funken aus, der drin glüht – jeder will sich auszeichnen und überbietet an Manier – statt an Geist und Selbstsuchen.“
Eine eigene Sehweise
Ein Künstler muss seinen eigenen Weg gehen – dieser Grundsatz begleitet Schuch sein Leben lang. Sehen ist subjektiv – das bestätigen auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit. Schuch teilt mit seinen Pariser Zeitgenossen das große Interesse an Fragen der Optik und Sinnesphysiologie.
„Jeder Mensch ist ein Unicum und in der Zusammensetzung nur einmal da.“
Neueste Forschungen zum menschlichen Sinnesapparat hinterfragen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Idee einer rein objektiven, stabilen Wahrnehmung der sichtbaren Welt. Die Vorläufer der Neurowissenschaften belegen damals schon: Bestimmte Wahrnehmungsmuster sind physiologisch gesteuert. Visuelle Reize werden außerdem mit individuell Vorgeprägtem und Erinnertem abgeglichen. Schuch und viele seiner französischen Zeitgenossen beschäftigen sich ausgiebig mit den bahnbrechenden Erkenntnissen.
Keine einzelnen Bilder, sondern Bilderfolgen – in Paris tariert Schuch seine Stillleben immer neu aus. Er ändert die Anordnung der Gegenstände und ihre Farbgestaltung manchmal kaum merklich ab. Schuch näherte sich Bild für Bild einer Wirklichkeit, deren Erscheinung wandelbar und fragmentiert ist.
Schuch wurde schon kurz nach seinem Tod immer wieder mit Paul Cézanne (1839–1906), dem „Urvater der Moderne“, verglichen. Ob die beiden Künstler sich in Paris begegnet sind, ist ungewiss. Auf die Darstellung des flüchtigen Natureindrucks in den Bildern der Impressionisten antworten beide Künstler mit einer malerischen Erkenntnissuche: Wie lassen sich Bilder gestalten, die den Gesetzmäßigkeiten der Welt und ihrer individuellen Wahrnehmung gerecht werden? Was ist – bei aller Unbeständigkeit – der Zusammenhang des Sichtbaren? Um diesen Fragen gerecht zu werden, entwickeln Schuch und Cézanne ihre ganz eigene, unverwechselbare Bildsprache.
Schuch zeigt sich in seinen Bildern: Vom Zurechtrücken der Gegenstände bis hin zu den offen erkennbaren Pinselstrichen – der gestaltende Eingriff des Künstlers ist offensichtlich. Das individuelle Temperament, das besonders feine Gespür des Malenden macht Kunst aus, so ist Schuch überzeugt.
„Nicht blos auf das Wie (individuell) sondern auf die Intensität auch der Empfindung kommt es an in dem künstlerischen Ausdruck.“
Zart, melancholisch und düster – manche Stillleben aus Schuchs Pariser Jahren erinnern an Musikstücke in Moll. Diese Gemälde von Schuch und seines Zeitgenossen Antoine Vollon teilen eine traurige Grundstimmung. Sie vermitteln eine tiefe Nachdenklichkeit, die sich deutlich von der momenthaften Farbigkeit der Impressionisten unterscheidet.
Manchmal lohnt der Blick unter die Oberfläche eines Gemäldes: Mithilfe von strahlenbasierten, zerstörungsfreien Analysemethoden wurde Schuchs Ingwertopf mit Zinnkanne und Teller untersucht. Unter der obersten Malschicht verbergen sich andere Kompositionen, die Schuch übermalte und veränderte. Eine dieser verworfenen Kompositionen ist in der digitalen Röntgenaufnahme zu erkennen, eine Zinnkanne, ein Teller, Knoblauch und ein rechteckiger Korb. In der ausgeführten Malerei rückte Schuch die Zinnkanne nach rechts und fügte den Ingwertopf hinzu. Nicht nur in seinen Bilderfolgen, auch auf ein und derselben Leinwand war Schuch unermüdlich, immer neue Bildzusammenhänge zu erkunden.
„[Ein Kunstwerk] ist ein Stück Wahrheit, gesehen durch ein Temperament.“